SIBIRISCHER SCHAMANISMUS. Keine Angst vor dem Geist der Prinzessin

„Ja“, antwortete Kudai Kam, „Und zwar nicht das erste, wie du weißt, seitdem der Geist der altaischen Prinzessin gestört wurde.“

„Das stimmt wohl!“

„Sobald diese dummen Wissenschaftler ihre Grabstätte freigelegt und ihre Leiche ins Institut gebracht hatten, fingen die ganzen Katastrophen und Unglücke an. Im ganzen Altai kam es schlagartig zu Erdbeben. Zahllose Familien wurden obdachlos. Hatten kein Dach mehr über dem Kopf. Dieser Irrtum hat viel Unglück und Unheil über die Menschen gebracht. Und damit ist es noch lange nicht zu Ende. Immer wieder legen sich die Wissenschaftler mit der Natur an. Wenn sie nur wüssten!

„Warum ist das so, Kudai Kam?“

„Die Menschen verstehen einfach nicht, dass man sorgsam mit allem umgehen muss, was einen umgibt, sei es nun mit einem Baum, einem Stein oder einem Tier. Oder selbst mit einem kleinen Grashalm, und erst recht mit dem Grab einer Prinzessin. Das wurde ja schließlich nicht ohne Grund angelegt. Die Prinzessin beschützte unseren Altai vor jeglichem Unheil und Sorgen. Aber die Wissenschaftler begreifen nicht, was ihr barbarisches Verhältnis der Welt gegenüber für Folgen hat. Sie begreifen nicht, dass man die Geister erzürnen und dafür sehr schwer bestraft werden kann. Das Leben kommt ihnen tot vor. Sie sehen die ganze Welt wie durch ein Mikroskop, wie in einem Reagenzglas. Sie sehen es nur als Versuchsobjekt, als Experimentierfeld, und nicht mehr. Sie sind Ignoranten, die sich mit ihrem Weltverständnis nur selbst einengen. Sie tun mir irgendwie schon leid. Aber um die Natur, die uns umgibt, ist es auch schade. Der Mensch hat sich angemaßt, Herr über die Natur zu sein. Und nun glaubt er, könne er mit ihr umspringen, wie es ihm beliebt. Er greift in das natürliche Gleichgewicht der Kräfte ein und zerstört es. Und die Natur gibt ihm dann die Quittung für das, was er anrichtet.

„Ja, das kann man ja daran sehen, was so überall passiert“, seufzte der junge Mann traurig auf, „Am Katun wollte man ein Wasserkraftwerk errichten, aber man hatte nicht überlegt, dass dadurch das ganze Gleichgewicht der Natur durcheinander gerät. Es fängt damit an, dass es massenhaft Mücken gibt und sich die Luftfeuchtigkeit verändert, und es endet darin, dass der Fluss selbst nicht mehr klar und rein ist.“

„Du hast Recht, mein Freund. Aber schau dich doch nur um: alles ist erfüllt von Leben, Sinn und Licht.“

„Etwa auch die Prinzessin?“

„Natürlich!“, lachte der Schamane, „Ich kann dir sogar noch mehr verraten: sie ist am Leben.“

„Wie meinst du denn das, Kudai Kam?“, fragte Saosch Jant überrascht.

„Na ja, natürlich nicht körperlich gesehen, wie wir das normalerweise unter Leben verstehen.“

„Aber wie denn dann?“

„Sie lebt in der Schattenwelt.“

„Im Reich Erliks?“

„Ja, genau. Und du kannst dich dort mit ihr treffen.“

„Aber wozu denn?“

„Sie möchte dir ihr Wissen weitergeben.“

„Aber wie soll man denn das anstellen?“, fragte Saosch Jant brennend vor Neugier.

„Um mit der Seele eines toten oder lebenden Menschen Kontakt aufzunehmen, muss man sich ihn vorstellen oder emotional an ihn denken, man darf ihm gegenüber also nicht gleichgültig sein. Deine Emotionen schicken ihm, ähnlich wie ein Radar, Energie, und zur Antwort empfängst du seine Energie, die mit dem Zustand angereicht ist, in dem sich dieser Mensch befindet.“

„Machen das alle Schamanen so?“

„Ja, alle. Aber du bist schließlich auch ein Schamane, du kannst in die Geisterwelt hinausgehen und dich mit ihnen von Angesicht zu Angesicht treffen.“

„Aber wie soll ich sie mir denn vorstellen? Ich habe ja schließlich diese Prinzessin noch nie gesehen!“, entgegnete Saosch Jant.

„Ach, das macht nichts, ich helfe dir dabei. Ich habe sie nämlich schon gesehen.“

„Wie? Wo?“

„Na, in der Schattenwelt natürlich“, lachte der Kam über die Ungläubigkeit des jungen Mannes.

„Ist sie denn schön?“, fragte Saosch ungeduldig.

„Ja, sehr.“

„Dann nichts wie los!“, brach es aus Saosch heraus.

„Immer langsam, du tollkühner Hengst! Du musst dich der Prinzessin schon etwas respektvoller und ehrfürchtiger nähern. Sonst kann sie sehr wütend auf dich werden.

„Entschuldige, Kudai Kam, das war nicht meine Absicht.“

„Es gehört zu meinen Pflichten, dich zu warnen. Aber nun los, nimm das Tamburin, fang an, die Geister zu rufen, fühle den Rhythmus, der dich in die Traumwelt bringen wird. Mache ausfindig, wen du sehen willst und stimme dich auf ihn ein. Und ich werde dich dabei auf das Bild der Prinzessin einstimmen, auf der Maultrommel spielen und dir bei der Anrufung helfen.“

 

 

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