SIBIRISCHER SCHAMANISMUS. Das Erdbeben

„Einverstanden“.

Saosch Jant legte freudig die überschüssige Kleidung ab und machte es sich am Feuer des Herdes bequem.

„Sag mir, lieber Kudai Kam“, fragte er höflich, „Warum ist das so? Das Feuer ist doch direkt in der Mitte des Tschaadyrs, aber es gibt überhaupt keinen Rauch. Hier gibt es doch weder einen Ofen noch einen Dunstabzug. Es müsste doch alles längst verrußt sein. Und trotzdem zieht der Rauch immer schön nach oben ab. Wie funktioniert das?“

„Tja!“, schmunzelte der große Schamane, „Meine Behausung ist nach uralten Regeln gebaut und aufgestellt. Und sie ist so ausgerichtet, dass der Rauch eben nach oben abzieht. Man muss den Tschaadyr nur richtig aufbauen.“

„Was soll das heißen?“

„Wenn du dich nur ein klein wenig vertust, ist die ganze Arbeit umsonst und du musst den Tschaadyr wieder neu aufbauen. Man muss eben wissen, wie man es richtig anstellt.“

„Bringst du mir das bei?“

„Natürlich, wenn die rechte Zeit gekommen ist…“

 

Kudai Kam sprach nicht weiter und gab seinem Schüler so zu verstehen, dass er daran noch nicht dachte.

Saosch Jant wurde etwas nachdenklich. Es herrschte ein unbehagliches Schweigen. Er spürte tief in seinem Inneren eine Nervosität aufkommen, die mit ihren scharfen Zähnen an ihm nagte, und so ließ Saosch Jant seinen Blick durch den Tschaadyr ziehen. Seine Augen blickten nach oben, wo er über der Feuerstelle eine große Leine erblickte.

„Was ist das?“, wunderte sich der junge Mann, „Wozu dient das?“

„Das ist eine Leine. Die dient zum Trocknen.“

„Und was trocknest du?“

„Alles Mögliche.“

„Und was genau, Kudai Kam?“

„Alles eben. Kräuter, Beeren, Pilze, Fleisch..“

„Ach so.“

„Soll ich dich vielleicht auch trocknen?“

„Ach, nein, lieber nicht. Vielleicht später, aber nicht jetzt“, murmelte Saosch verschämt vor sich hin.

Kudai Kam sah seinem Schüler äußerst eindrücklich und fest in die Augen, als hätte er ihm mit einem einzigen, weit ausgeholten und gezielten Schlag eine brennende Keule in die Seele geschlagen. Jener zuckte zusammen und verstand im selben Augenblick seinen größten Fehler: dass er ohne Not die Stille durchbrochen und den Kam mit unnötigen Fragen belästigt hatte. In der Stille und im Schweigen liegt eine große Macht. Wenn es nötig sein wird, wird man dir schon alles sagen. Spare dir deine Kraft auf anstatt zu schwatzen. Sei aufmerksam und konzentriert. Saosch senkte reumütig den Blick und setzte sich auf seine Schlafstätte. Kudai Kam nahm den Deckel vom Topf und gab eine große Handvoll Kräuter hinein. Die drängende Unruhe, die an dem jungen Mann mit ihren scharfen Zähnen genagt hatte, ließ endlich nach und ging in ein entspanntes und tiefes Schweigen über. Es war so, als hätte eine Wildkatze plötzlich ihre scharfen Krallen eingefahren und wäre zu seinem flauschigen, verschmusten Kätzchen geworden.

Sie saßen im Tschaadyr und tranken Kräutertee, während sie die angenehme abendliche Atmosphäre genossen. Der Dampf, der aus dem großen Kessel aufstieg, erfüllte den ganzen Tschaadyr mit dem Duft von Wiesen und Feldern, der sich aus dem vergangenen Sommer erhalten hatte. Saosch legte sich halb auf seine Schlafstätte und genoss die angenehme Müdigkeit, mit der sich die hinter ihm liegende Reise bemerkbar machte. Er war entspannt, wartete aber auch gleichzeitig darauf, dass ihm der Meister etwas sagen würde. Der aber schwieg, als würde er auf etwas warten. Was aber genau sollte das sein?…Das konnte Saosch Jant beim besten Willen nicht erraten. Es wäre ihm aber unangenehm gewesen, selbst das Schweigen zu durchbrechen. Und so betrachtete er schweigend das Flackern des Feuers, das in der Hütte für eine behagliche Wärme sorgte.

Er konnte keinen klaren Gedanken fassen, als er plötzlich unter sich eine starke Vibration fühlte. Das Geschirr auf dem kleinen Tischchen vor der Feuerstelle, der Kessel mit dem Kräutertee, ja sogar der ganze Tschaadyr fingen plötzlich an, stark zu vibrieren.

„Was ist das denn?“. Saosch schaute Kudai Kam fragend an. Der aber ließ sich völlig ungestört auf seiner Schlafstätte nieder, als wäre gar nichts geschehen. Und im selben Augenblick ließ die Vibration auch schon nach. Alles hatte sich beruhigt.

„Vielleicht habe ich mir das ja nur eingebildet“, zuckte der junge Mann verdutzt mit den Schultern. Und er gab sich wieder dem Teetrinken hin. Irgendetwas stimmte aber nicht. Sobald er einen kleinen Schluck genommen hatte, fing die Erde unter ihm so zu beben an, dass ihm jedes Lachen verging. Erschrocken ließ er die Tasse fallen, sprang auf und irrte quer durch den Tschaadyr. Eine animalische, unmenschliche Urangst ergriff seinen ganzen Körper. Er war bereit, einfach irgendwohin fortzurennen, egal wohin. Er sah flüchtig in Richtung des großen Schamanen und sah, dass dieser überhaupt keine Reaktion zeigte.

„Kudai Kam! Wir müssen etwas tun!“, schrie er auf, „Warum bleibst du so ruhig? Was sitzt du da noch herum? Wir müssen fliehen. Was ist hier los….?“

Aber es war ihm nicht mehr vergönnt, seine Worte fertig auszusprechen. Schon im nächsten Augenblick bebte die Erde so stark auf, dass der Tschaadyr zusammenstürzte und der ganze Hausrat verteilte sich in seinem Inneren. Das Zaumzeug klirrte, die Flinte fiel um, und von der Leine über der Feuerstelle rieselten Blätter, Kräuter, Pilze, Blumen, Dörrfleischstücke und ganze Bündel von Wurzeln herunter. Es kam ihm vor, als stürzte der Tschaadyr ein und würde all seine Bewohner unter sich begraben.

Wie ein wildes verletztes Tier irrte Saosch Jant vor Schreck noch heftiger durch den Tschaadyr und stellte den ganzen Hausrat auf den Kopf. Ein animalischer Schrecken durchfuhr seinen ganzen Körper. Ohne zu wissen, was er tat, stürzte er zum Ausgang. Und plötzlich…schrillte ein scharfer, mächtiger Lärm durch den Raum. Ein Pfeifen ertönte über seinem Ohr. Und plötzlich packte ihn etwas an den Knöcheln, riss ihn von den Füßen und schleuderte ihn hoch. Und schon landete der unglückliche Flüchtling mit voller Wucht auf dem Boden.

„So helft mir doch! Lasst mich los! Hilfe!“ schrie er mit aller Kraft aus.

„Was schreist du denn so rum?“, schmunzelte Kudai Kam völlig unbekümmert, „Hier hört dich sowieso keiner.“

Saosch kauerte sich auf dem Boden zusammen wie ein kleines hilfloses Kätzchen.

„Willst du etwa schon wieder aufbrechen?“

„Ich!…Ich!….Ich!…..“, stammelte er zusammenhangslos vor sich hin, während er sich auf dem Boden wälzte.

Kudai Kam trat behutsam an Saosch heran und schaute ihn mit ruhigem und durchdringenden Blick an, von dem eine angenehme, sanfte Ruhe ausging, die seinen ganzen Körper durchdrang.

„Wie, was? Was war denn nur los mit mir?, stammelte der junge Mann vor sich hin, als er wieder zu sich kam. Als er sah, dass mit seinem Schützling alles in Ordnung war, band der Schamane das Lasso von seinen Füßen los.

„War das etwa ein Erdbeben?“, fragte Saosch Jant, als er sich wieder auf seine Schlafstätte setzte.

 

 

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