SIBIRISCHER SCHAMANISMUS. Die Schönheit der Schlucht. Der Obo

Als er sich die gewundene, holprige Straße heraufschleppte und Kurve um Kurve meisterte, konnte Saosch Jant sich an der Schönheit dieses erhabenen Ortes erfreuen. Er hielt an einer Kurve an, um ein wenig zu verschnaufen. Er wischte sich den Schweiß aus den Augen.

Er hörte auf seinen Herzschlag, der ihm, so schien es, durch den ganzen Körper ging und ihm fast die Brust zerreißen wollte. Ständig ging es: „BUMM-BUMM! BUMM-BUMM! AL-TAI! BUMM-BUMM! AL-TAI!…“.

Saosch blickte hinab und sah in eine majestätische Schlucht, die zu beiden Seiten hin in gewundenen, dunkelgrauen Wänden hinabging, von denen sich rauschende Wasserfälle ergossen. Er sah die wilden Ströme des Flusses, dessen trübes und doch mächtiges Wasser zum Telezker See strebte. Dann erhob er seinen Blick in Richtung der majestätischen und unerschütterlichen weißen Berggipfel und des strahlend blauen Himmels, in dem ein Habicht mit gespreizten Schwingen einsam über ihm herumkreiste.

„Das ist mein Altai, wie ich ihn kenne“, sagte er sich voller Stolz, „Nur an solchen Orten, wo die Naturgewalten und menschliche Kühnheit einander ins Angesicht sehen, versteht man die Schönheit und Macht des Schöpfers, der all dies geschaffen hat. Und wie viele solcher Orte mag es wohl noch auf dieser Erde geben?“

Als er sich an der schönen Aussicht sattgesehen hatte und wieder zu Kräften kam, setzte er seinen Aufstieg fort. Dann brachte er das verbliebene Wegstück hinter sich und kam ans Ende des Engpasses, wo sich eine Aussichtsplattform mit mehreren Obos befand, Pyramiden aus aufeinander geschichteten Steinen. Er hielt vor einem von ihnen inne und dachte sich:

„Ja, die Leute wissen gar nicht mehr, was diese Pyramiden eigentlich bedeuten. Sie wünschen sich irgendetwas, nehmen sich den erstbesten Stein, legen ihn dann zum Rest auf den „Haufen“ und glauben allen Ernstes, sie würden sich damit der Erfüllung ihrer sehnlichsten Wünsche nähern. Dabei vergessen sie aber, dass sie es sich zu leicht machen, wenn sie dabei überhaupt keine Kräfte aufwenden müssen. Früher brachten die Leute diese Steine von weit her mit. Auf ihnen waren heilige Schriften und Gebete eingemeißelt. Einige von ihnen wogen bis zu zehn Kilogramm oder sogar mehr. Die Pilger bereiteten ihre Reisen zu den heiligen Orten sehr lange vor und meißelten die Texte eigenhändig in die Steine. Sie fasteten, beteten, sammelten ihre letzten Kräfte. Und als sie sich völlig verausgabt hatten, müde, erschöpft und am Ende ihrer Kräfte waren, nahmen sie ihren ganzen Willen zusammen und schafften es doch noch zu diesen heiligen Orten, und sie fanden sich dort in einem Zustand solcher Stärke und Macht wieder, dass ihre Wünsche im Nu zu den Göttern hinaufflogen. Und die erhörten ihre Gebete. Jetzt ist das aber völlig anders. Da glaubt man, man könne sich einfach ins Auto setzen und ziemlich bequem an irgendeinen Ort fahren, irgendeinen erstbesten Stein mitnehmen, der einem gefällt (und am besten auch was hermacht), und wenn man ihn dann auf einen Haufen mit anderen solchen Steinen lege, dann würden die eigenen Wünsche in Erfüllung gehen. Aber die Götter können einen nicht hören. Ganz einfach, weil der eigene Zustand überhaupt keinem Wunsch entspricht. Er ist und bleibt nur eine schwache, chaotische Laune eines schwachen Menschen, eines Menschen, der es sich in den Annehmlichkeiten einer kranken Gesellschaft bequem gemacht hat. Nein, Nein und nochmals nein! So einer will ich nicht sein! Ich will nicht, dass meine Wünsche an den Ohren der Götter vorbeigehen. Ich will ein großer Kam werden. Und ich bin bereit, auch das Unmögliche zu wagen, was meine Kräfte übersteigt. Ich weiß und ich verstehe, dass ich nur so die Kraft des Schamanen erlangen werde!“

Saosch Jant blieb noch ein wenig in Gedanken versunken auf der Aussichtsplattform stehen und ergötzte sich an der Schönheit der sich vor seinen Augen erstreckenden Schluchten, dann aber lenkte er seine Schritte weiter nach oben. Noch einen weiteren Tagesmarsch legte er auf der stets bergauf gehenden Straße zurück, und er gelangte an den Ort, den ihm die Geister gewiesen hatten. Dort befand sich auch die Behausung von Kudai Kam.

 

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